Swetlana Hübscher

Schon mit vier Jahren habe ich überzeugend blumige Lügengeschichten vorgetragen – und geriet dadurch wiederholt in Bredouille, als die Nachbarskinder, oft eine ganze aufgebrachte Clique, unsere Wohnung für Tage umstellten, weil die versprochenen Beweise meiner unermesslichen Zauberkräfte und fast alltäglichen Heldentaten auf sich warten ließen.

Erst später kam mir in den Sinn, die mir zustehenden, sich bloß vorübergehend irgendwo im Raum verirrten, edlen Züge – aber auch erdenklich dreiste Attitüden jeder Art – in andere Personen, genau genommen aufs Papier zu projizieren.

In der Zeit dazwischen konnte ich mir nicht genug an gedruckten Lettern einverleiben. Über die festgelegte Tagesordnung hinaus las ich nachts heimlich in der Abstellkammer oder mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke. Ich las stehend in der U-Bahn und blickte manchmal im Schulunterricht verstohlen ins abenteuerreiche Buch auf meinem Schoß. Bis mein Notenschnitt einen Sturz erlitt, und sämtliche Büchereien unserer Stadt auf Anweisung meiner Eltern ein Hausverbot für mich verhängt hatten – vorerst.

Kennt Ihr das vielleicht? Lesen im Halbdunkeln, wo das spärliche Licht zwischen den ermüdeten Augenliedern flackert, und die präzise gezeichnete Wirklichkeit, sich auflösend, ihre zum allerlei Umdeuten freigegebenen Schatten zurücklässt … In diese Grotte voller Träume geriet man dann auch tagsüber, an dem durch flüchtige Beobachtung oder zufällig wahrgenommene Sprachsequenz herausprovozierten, eindringlichen Gedanken „Was wäre, wenn …?“ gestolpert.

Wenn dann die realen Ereignisse – manchmal erst nach Jahren – meiner Erdichtung nacheilen, kann ich mein vergnügtes Lächeln kaum noch verbergen. Wie fantasielos waren doch meine kleinen Kumpanen, indem sie den Glauben an meine Zauberkräfte verschmähten!

Nun bin ich erwachsen und erzähle niemandem davon direkt – wie auch darüber, dass ich in der Tat auf den Mienenfeldern gespielt und Braunbären umarmt habe, und später auch …

Was, ihr glaubt mir wohl wieder nicht?

  • am Baikalsee geboren
  • aufgewachsen und studiert in der Heimat ihrer Eltern in und bei St. Petersburg
  • Konstrukteurin, Dipl. Ingenieurin für Raumfahrttechnik
  • lebt in Würzburg
  • schreibt Lyrik, Essays und – soweit ihre knappe freie Zeit dies zulässt – auch Drehbücher

Veröffentlichungen

Gedichte in „Worte, Welten, Wirklichkeiten“ – Buchverlag G. H. Hofmann 2015, ISBN 978-3-932737-62-6.